Warum gibt es keine blauen Gummibärchen? Ganz einfach. Die meisten Konsumenten finden blaue Lebensmittel unnatürlich. Es gibt nämlich gar nicht so viele von ihnen. Blaubeeren, Pflaumen oder Brombeeren könnte man nun anmerken. Ihre Farben sind aber im Bereich zwischen Rot und Blau angesiedelt. Wie sieht es hingegen mit der Farbgebung in der Tierwelt aus? Der blaue Morphofalter zum Beispiel, dessen Flügel strahlend blau sind. Dafür sind aber keine Farbstoffe verantwortlich, wie wir es von den meisten Lebensmitteln kennen, sondern die mikroskopische Oberflächenstruktur. Besonders feine Schuppen reflektieren und verstärken einen geringen Bereich des elektromagnetischen Spektrums, den wir letztendlich als blau wahrnehmen. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Struktur- oder Interferenzfarbe.
Die Flügel des Morphofalters sind nicht nur im Bereich der Biologie von Interesse. Sie dienen auch als Vorbild für neue Technologien, konkret Displaytechnologien. Der Einsatz von Strukturfarben, die eine brillante und gleichzeitig energieeffiziente Farbgebung ermöglichen, wurde bereits in der Produktentwicklung von E-Book-Readern umgesetzt.
Die besonderen Eigenschaften dieser Schmetterlingsflügel und seine technische Nutzbarmachung sind für Diplom-Biologin Dr. Kristina Wanieck das spannendste Beispiel aus der Bionik. Seit 2021 ist sie Professorin für Bionik und Innovation an der Technischen Hochschule Deggendorf.
Der Morphofalter: Seine Flügel dienten als Inspiration für einen E-Book-Reader.
Wenn die Biologin nicht zum Campus kommt...
...muss der Campus zur Biologin. Kristina Wanieck zog es nach ihrem Biologiestudium in den Bayerischen Wald. Nur leider gab es dort wenige berufliche Möglichkeiten für die Kompetenzen der gebürtigen Hessin. Das änderte sich als die THD 2009 beschloss, einen Technologie Campus samt einer Arbeitsgruppe Bionik in Freyung anzusiedeln. Sie beschloss kurzerhand eine Initiativbewerbung einzusenden und wurde eingestellt. In ihrem Biologiestudium stand Bionik zwar nicht auf dem Lehrplan, aber sie war neugierig und bereit sich der Aufgabe zu stellen.
Die Gruppe strebte schon früh große Industrieprojekte an, deshalb musste Wanieck sich in kürzester Zeit in die noch unbekannte akademische Disziplin einarbeiten. „Man sagt, man wird ins kalte Wasser geworfen. In meinem Fall eher ins eiskalte“, so die Professorin. Doch die harte Arbeit hat sich gelohnt und im Gespräch mit ihr merkt man schnell: Sie brennt für ihr Thema.
Die Brücke zwischen Biologie und Technik
Klettverschluss. Lotuseffekt. Exoskelett. Bionik findet man in vielen Lebensbereichen. Dabei belächelten Unternehmen den bionischen Ansatz früher meist, schließlich handelt es sich bei der technischen Nachahmung biologischer Vorbilder um „keine Ingenieursleistung“. Und dann auch noch auf Basis eines Schmetterlings? Unvorstellbar.
Kristina Wanieck hingegen ist vom wirtschaftlichen Potenzial der Natur überzeugt. Nicht nur auf Grund der technischen Transferleistung, sondern der nachhaltigen, ihrer Umwelt angepassten Lösungsansätze. Als sie sich entschied zu promovieren – wohlgemerkt, während sie am Aufbau des TC Freyung arbeitete – widmete sie sich deswegen den methodischen Vorgehensweisen der Bionik. Die richtige Kommunikation mit Unternehmen ist von großem Belang, denn der Brückenbau zwischen BIOlogie und techNIK ist komplex. Heute ist sie Bionikbotschafterin.
Exoskelett des TC Hutthurm. Nahaufnahme der Beinpartie.
Kommunikation und Bioinspiration
Bionik ist nicht nur eine wissenschaftliche Disziplin. Sie ist eine Denkweise. Erinnern wir uns an den Morphofalter: Wir freuen uns über die angenehme Leseerfahrung auf unserem E-Reader, aber wer denkt daran, dass die Technik auf den Flügeleigenschaften eines tropischen Falters basieren könnte? Oder andersherum: Wer denkt daran, sich für ein Display einen tropischen Falter zum Vorbild zu nehmen? Während klassisch ausgebildete Biologinnen und Biologen die Prozesse der Natur untersuchen und verstehen wollen, ist ihnen meist nicht bewusst, welchen technischen Nutzen diese leisten könnten. Auf der anderen Seite denken Ingenieurinnen und Ingenieure bei ihrer Arbeit nicht zwingend daran, in der Natur nach Inspiration zu suchen. Um diesen Transfer zu leisten, müssen die Forschenden beider Seiten das Potenzial kennen und ihr jeweiliges Wissen untereinander kommunizieren. Die Möglichkeiten der Bionik sind unendlich groß, die Methodik ist aber noch nicht überall angekommen.
Wie vermittelt Wanieck also diese Denkweise? Essenziell ist der eigene Aha-Effekt. Um Menschen zu erreichen, muss man ihre Sprache sprechen. So wählt man für Ingenieurinnen und Ingenieure keine Beispiele aus der Welt der Schmetterlinge, sondern etwa Fortbewegungsmittel. Die Aerodynamik von Flugzeugen geht auf Naturbeobachtungen zurück. Bei einem einzigen biologischen Konzept wie dem Vogelflug muss es dann auch nicht bleiben. Eine bekannte Fluggesellschaft testete beispielsweise 2021 Folien auf Flugzeugen, die die Oberflächenstruktur von Haifischhaut nachahmen. Sie ist nicht glatt, sondern bedeckt mit kleinsten Schuppen, die behindernde Wasser- beziehungsweise Luftverwirbelungen verhindern. Der Nutzen? Weniger Widerstand resultiert in einem geringeren Energieverbrauch. Die Technologie hat bereits Marktreife erlangt und wird ab 2024 in ausgewählten Linienflugzeugen eingesetzt.
Prof. Dr. Kristina Wanieck: Die Diplom-Biologin wurde 2021 zur Professorin für Bionik und Innovation an der THD berufen.
Wie Löwenzahnsamen im Wind – nachhaltige Wissensverbreitung
Die Bionik-Community ist überschaubar, sagt Wanieck. Deswegen arbeitet sie daran, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Mit anderen Forschenden entwickelt sie Konzepte, die die Relevanz und Vorgehensweise der breiten Masse näherbringen: Netzwerktreffen, Innovationsworkshops, Road Shows, Schulungen und vieles mehr. Und dann? Wenn die Unternehmen ihre ersten Erfahrungen gemacht haben? Nicht jedes Unternehmen kann sich schließlich bionisches Fachpersonal leisten (im Sinne von Personen mit bionischem Wissen, nicht Cyborgs). Dann muss man der Wirtschaft die nötigen Werkzeuge an die Hand geben, um das Gelernte nachhaltig zu praktizieren.
Das Wissen über die Biodiversität unseres Planeten ist enorm, aber nicht in einer Weise aufbereitet, die für Produktentwicklungen als zugängliche, durchsuchbare Inspirationsquelle dienen kann. Der Lotuseffekt beispielsweise ist in der Literatur gut beschrieben, und zwar nicht nur als Eigenheit einer Pflanze, sondern ebenfalls als Anwendungsfall für Produkte auf dem Markt. Die Natur bietet aber so viel mehr an Eigenschaften und Systemen, die der Mensch für zukunftsfähige und vor allem umweltschonendere Vorgehensweisen nutzen kann. Was fehlt, ist eine Schnittstelle, etwa eine Datenbank. Dabei wird auch Künstliche Intelligenz eine Rolle spielen. Nicht als Ersatz für die Bioniktätigkeit, sondern als Unterstützung. KI kann beispielsweise eine hohe Anzahl an Fachtexten zeitsparend durchsuchen und deren Inhalte sortieren und aufbereiten.
Von Science-Fiction bis Mantarochen
Die Zeiten, in denen die Industrie mit einem spezifischen Problem auf Bionik-Forschende zukam, sind eher vorbei. Es gibt neue, aufsteigende Player, die die Wirtschaft beschäftigen – Machine Learning, Big Data oder Künstliche Intelligenz, um nur ein paar wenige zu nennen. Es gibt aber eine Herausforderung, für welche die Bionik ihre wirtschaftliche Relevanz ausspielen wird: Nachhaltigkeit.
Forschende stehen im Zuge dessen vor der Aufgabe, eine wertebasierte, biodiversitätsrespektierende und systematische Vorgehensweise der Bionik zu entwickeln. Beispiel: Momentan fokussieren sich Wirtschaft und Wissenschaft auf die Entwicklung enormer Anlagen, um CO2 aus der Umgebungsluft zu filtern und anders nutzbar zu machen. In der Natur machen das unter anderem Blätter. Nicht ein einzelnes natürlich, sondern viele an verschiedensten, weiträumig verteilten Pflanzen. Es geht nicht darum umweltzerstörende Maßnahmen durch weniger schädliche zu ersetzen, sondern den Grundansatz anzupassen. Mehr Platz für Dezentralisierung, Resilienz, Adaptivität.
Am TC Freyung ist man mit diesem Paradigmenwechsel momentan an zwei großen Forschungsprojekten beteiligt. Kristina Wanieck ist stellvertretende Leiterin des internationalen Projekts Manufactured Eco-Systems. Die Idee: Die Klimakrise in einer bionisch geprägten Zukunftsvision neu thematisieren. Dienstleistungen, die Ökosysteme natürlich leisten, werden dabei als technologische Substitute neu gedacht – beispielsweise Roboterbienen, die wie ihre natürlichen Vorbilder Pflanzen bestäuben. Das Besondere am Projekt ist die Zusammensetzung des Teams, das neben Forschenden auch Kunstschaffende umfasst. Sie vermitteln Inhalte auf andere, kreative Weisen – man denke an Science-Fiction – und regen dadurch zu vielfältigeren Dialogen an.
Doktorand Jindong Zhang ist am Projekt Nature4Nature beteiligt. Es zielt darauf ab, Doktorandinnen und Doktoranden mit den Werkzeugen, dem Wissen und der Denkweise auszustatten, die erforderlich sind, um Herausforderungen in der Bioinspiration zu bewältigen. Als Modellsystem nutzt das EU-geförderte Forschungsprojekt Wasserfiltrationsanlagen nach biologischem Vorbild. Ziel ist es ein Filtersystem zu erarbeiten, das (Mikro-)Plastik effektiv aus den Meeren entfernen kann. Beteiligt sind insgesamt neun europäische Hochschulen und Institutionen, an denen jeweils ein Doktorand beziehungsweise eine Doktorandin einen Teilaspekt des Arbeitsprozesses erarbeitet. Zusammen arbeiten die Doktoranden am gesamten Entwicklungsprozess, sodass am Ende möglichst ein technischer Prototyp steht, der unter anderem auf der Biologie von Mantarochen, Enten oder Löffelstören basiert. Diese müssen bei der Nahrungsaufnahme unter Wasser die festen, essbaren Bestandteile herausfiltern. Dabei sind sie viel weniger anfällig für Verstopfungen oder Verschmutzungen als die aktuell verfügbare Technik.
Zum Abschluss...
...ein Kurzausflug in die Sprachwissenschaften: Das Kofferwort Bionik aus BIOlogie und techNIK bezeichnet im Deutschen eine spezifische Fachrichtung, die die technische Umsetzung biologischer Prinzipien beschreibt. Im englischen Sprachgebrauch spricht man dabei von „biomimetics“ oder „biomimicry“.
Der englische Begriff „bionic“ ist ebenfalls ein Kofferwort, aber aus den Wörtern BIOlogy und electroNIC. Er umschreibt technologische Entwicklungen beziehungsweise Mittel, die Körperteile ersetzen können (beispielsweise Prothesen, die durch Nervenaktivität bewegt werden). Im Deutschen werden deswegen auch vermehrt die Begriffe Biomimikry, Biomimetik und Biomimese verwendet.