„Innere Kündigung“, ein Begriff, der wie kein zweiter mit dem emotionalen Ausstieg aus einem Unternehmen oder einer ganzen Berufssparte verbunden ist. Das Problem, dass immer mehr Menschen sich emotional von ihrem Beruf verabschieden, haben wir durch die Pandemie besonders in der Pflege zu spüren bekommen. Dabei ist ein Begriff entstanden, der markig ist und als Kunstwort in den Medien Verwendung findet, der „Pflexit“. Im Kontext von Anti-Corona-Demonstrationen hat der Begriff auch unter dem Hashtag #pflegteuchdochselbst eine große Wirkung erzielt. Aktuell arbeiten circa 1,8 Millionen Menschen in der Pflege, wobei ein Rückgang um ein halbes Prozent verzeichnet wird. Zwischen Mai und Ende Juli 2020 ist der Ausstieg aus dem Pflegeberuf erstmalig bewusst in den Fokus gerückt worden.
Nicht jeder –xit ist diabolisch
Ich möchte diesen Begriff hier aufgreifen und ihn unter Berücksichtigung der offenkundigen Faktoren für eine zukunftsweisende Betrachtung und Entwicklung der Pflege einsetzen. Der „Pflexit“ als Beendigung des Pflegeberufs aus persönlichen Gründen, auf Grund der hohen Arbeitsbelastung, der fehlenden Anerkennung und der oftmals starren Strukturen im Pflegealltag ist mittlerweile so gängig wie „Megxit“, „Brexit“ oder „Grexit“. Nicht alles was mit –xit am Ende verbunden wird, muss jedoch konsequent diabolisch an die Wand gemalt werden. Gehen wir an dieser Stelle eine nüchterne Betrachtung der Entwicklung an.
Pflege mit vielen Baustellen
Der Krankenstand und die psychischen Erkrankungen in der Pflege zeigen, dass der Personalkörper unter vielschichtigen, negativen Bedingungen leidet. Der Anstieg von Krankheitstagen in der Pflege ist keine Entwicklung, die es zu leugnen gilt, sondern eine erstzunehmende Bedrohung für die Aufrechterhaltung eines funktionalen Arbeitsalltags. Zudem beeinflussen die politischen Entscheidungen die Rahmenbedingungen maßgeblich. Somit sind Bezahlung und Arbeitsbedingungen in der Pflege auf den Prüfstand zu stellen. Die Konzertierte Aktion Pflege des Bundesministeriums für Gesundheit versucht zwar die Themen Ausbildung, Personaldecke und Bezahlung zu platzieren, dazu müssten aber auch die großen Träger und Wohlfahrtsverbände einheitliche Standards festsetzen. Und natürlich hat Corona die Lage dahingehend verschärft, dass Personalreduktion in Kliniken und Krankenhäusern zu einer immer größeren Belastung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege wird. Volle Intensivbetten bei gleichzeitigem Ausfall von Pflegekräften haben eine enorme deskriptive Sprengkraft.
Dem Personalmangel kreativ begegnen
Doch der „Pflexit“ ist nicht nur, eine persönliche, innere Kündigung, sondern auch eine systemische Problemstellung, die Krankenhäuser, ambulante und stationäre Einrichtungen in wenigen Jahren erreichen wird. Mit dem Fehlen von 500.000 Arbeitskräften in der Pflege ab dem Jahr 2035 wird sich die Lage zukünftig noch verschärfen. Aus Personalentwicklungssicht reicht es daher nicht, das Personal über rein monetäre Anreize zu gewinnen oder neue Recruiting Methoden einzusetzen. Es muss an der Struktur der Pflege, deren Prozessen und Abläufen gearbeitet werden. Digitalisierung und Akademisierung sind hierbei weitere Bausteine zur Professionalisierung der Pflege und damit zum Ausgleich der fehlenden Stellen.
Das Denken ist das Sein
Auch in Deutschland muss diese Professionalisierung gelebt werden, wie sie vor allem im angloamerikanischen Raum schon seit Jahrzehnten praktiziert wird. Dazu gehören bei weitem nicht nur akademisierte Pflegekräfte, aber eben auch diese. Nicht nur die Arbeitgeberseite ist hier gefordert, sondern auch die Arbeitnehmerseite. Es muss ein Commitment entstehen, das Pflegekräften ermöglicht, die Herausforderungen des Alltags zu meistern. Dazu sind aber auch Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ihnen erlauben, sich auf ihren Beruf zu konzentrieren. Systemisch gibt es hier großen Nachholbedarf. Die im Gesetz für Pflegepersonalkostenvergütung festgeschriebenen Änderungen, damit Pflege nicht mehr nur zweckgebunden abgerechnet werden kann, reichen nicht aus. Im Sinne der hegelianischen Philosophie „das Denken ist das Sein“ muss es an diesem Punkt zu einem Umdenken kommen. Der Weg führt über den Bereich der Bildung und Weiterbildung - dafür steht eine akademische Bildung von Pflegekräften im Zentrum. Einrichtungen und Betriebe müssen jedoch die Bereitschaft haben, diesen Weg auch in der Vergütung und in der praktischen Ausbildung mitzutragen. Es ist notwendig, echte Karriereperspektiven in pflegerischen Berufen aufzuzeigen, sodass Studierende den Anreiz haben, diesen Weg zu beschreiten. Zudem ist Pflege auch im akademischen Bereich ein praktisches Feld. Wissen, das mit vielen Praxisstunden vermittelt wird, steht im Fokus. Diese praktischen Ausbildungsabschnitte müssen vergütet werden.
Es geht auch um’s Mindset innerhalb der Pflege
So sind es nicht die Schichtarbeit oder das Bezahlmodell in der Pflege alleine, die die Menschen dazu bewegen, ihren Beruf und meist auch ihre Berufung aufzugeben. Das ist nur ein Teil unter vielen. Die Vielschichtigkeit macht es schwer, das Problem zu definieren und beim Schopf zu packen. Eine analytische und wissenschaftliche Herangehensweise ist dabei hilfreich, aber es braucht auch echte Veränderungen. Eine Veränderung im Mindset wie auch im Berufsalltag ist nötig, um dem „Pflexit“ etwas entgegen zu setzen. Diese Bewusstseinsänderung und damit der Wandel der Haltung sind die Basis für den Turnaround in der Pflege.
Nursing Leadership
Doch wie schaffen wir das? Es ist notwendig, dass wir die Pflegefachfrau oder den Pflegefachmann als eigenständige Berufsgruppe mit hohem Qualifikationspotenzial bis hin zu einer Form des Nursing Leaderships sehen. Als eine Fachkraft, zu deren Handwerk es selbstverständlich gehört, gesundheitliche Herausforderungen zu analysieren und Gesundheit zu fördern, sowie die Grenze zur Hilfe & Pflegebedürftigkeit zu antizipieren. Und, dass wir die Menschen dabei zur weiteren Entwicklung ihrer gesundheitsbezogenen Kompetenz fördern. Wir wollen eine Fachkraft, ob akademisiert oder nicht, mit einer Vielzahl an Kompetenzen, die es ihr ermöglichen, situative Handlungsmöglichkeiten fallbezogen zu erarbeiten und umzusetzen. Verantwortung und Führung sind dabei die Treiber des Nursing Leaderships, wie ich es verstehe. Verantwortung im Sinne der Freiheit, auch sich selbst gegenüber. Um aus sich selbst heraus Dinge zu bewegen und anzutreiben.
Schluss mit Jammern
Das Motto in der Pflege muss lauten: Raus aus dem Jammertal – mit Leuchtturmprojekten. Sei es im digitalen Bereich oder aber im Bereich der Bildung. Leuchtturmprojekte, die ein Umdenken beim Pflegepersonal, aber auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nach sich ziehen. Das „Jammertal“ sind dabei nicht die persönlichen Belange der Pflegekräfte, sondern die immerwährenden Mantras aus Politik und Gesellschaft über die Probleme und negativen Aspekte des Berufsfeldes. Wenn wir weiter versuchen in der öffentlichen Wahrnehmung den Pflegeberuf schlecht zu reden, werden wir nicht ein Prozent mehr Auszubildende oder Studierende haben. Das kann und darf nicht im Interesse der Gesellschaft, der Verbände und der Arbeitgeber sein.
Pflege positiv denken
Der Wandel beginnt im Denken. Und nur, wenn ich das Denken ändere, kann ich den Wandel vorantreiben. Also lasst uns die Schranken beiseite räumen und Pflege neu, innovativ und vor allem positiv denken. Als eine Berufung mit Verantwortung und Kompetenzen, die den Pflegekräften echte Karriereperspektiven aufzeigen. Dazu hat es jedes Unternehmen, jede Klinik oder jeder Verband selbst in der Hand. Die Botschaft ist: „Ihr bestimmt die Richtung“. Damit wir neue und motivierte Pflegekräfte auch akademisch bilden können.
Timo Steininger
Dr. Timo Steininger ist Leiter „Referat Praxis“ an der Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften der Technischen Hochschule Deggendorf. Er hat 2020 das Start-up Quimedo gegründet, welches sich mit der digitalisierten Patientenüberleitung von stationärer Behandlung in die Reha oder die Pflege zu Hause beschäftigt. Weitere KI-basierte Projekte sind in der Pipeline.